13/21
Verstand, Vernunft, Farbdrucker
Die Formulare drucke ich in vierfacher Ausführung aus, kopiere meinen Pass, mein Ticket, meinen Einreisenachweis und das Visum. Ich unterschreibe auf den Seiten, dann er, dann lassen wir das Papier in Klarsichthüllen fallen, heften es ab. Er füllt mir Kaffee nach, ich schreibe noch eine weitere E-Mail an das Konsulat. Gestern Abend stand ich noch auf der Passagierliste, die sich mir vom Server herunterladen konnte, zwölf Stunden später fehlt mein Name.
„Und?“
„Sie prüfen es.“
„Mh-hm…“, mehr sagt er nicht, streichelt mir nur kurz über die Wange.
Hier oben im Haupthaus bereiten mein Verstand, meine Vernunft und der Farbdrucker der Familie meine Abreise vor, aber unten, tief drin im Herzen, hoffe ich, dass ich noch nicht gehen muss. Nicht jetzt, nicht binnen 48h, nicht einfach so.
„Ich versehe nicht, wieso sie dich unbedingt gleich auf den ersten Flug setzen mussten. Gibt es nicht so viele andere Touristen, die in Hotels festsitzen und unbedingt nach Hause müssen? Du bist doch hier sicher…"
‚Mama, das kann sie sich doch nicht aussuchen.‘
„Ich meine ja nur, dass es sicher dringendere Fälle als Lina gibt …“
Sie legt mir den Arm auf die Schulter, drückt sie kurz und sagt dann, während sie sich ein Glas Wasser einschenkt, die Zeitung nimmt und wieder zurück auf die Terrasse geht, „meinetwegen kannst du hierbleiben. Und wenn es dir dort unten im Bootshaus zu viel wird, kommst du eben hoch zu uns…“
In der nächsten Stunde kommen immer mehr Familienmitglieder zu uns in die Küche, fragen nach, ob es wirklich stimmt, dass ich zurück nach Deutschland fliege, wollen Details erfahren, machen sich Gedanken über unsere Route, über die geschlossenen Grenzen selbst zwischen den Distrikten. Von Mpumalanga müssen wir zuerst nach Gauteng, dann nach Pretoria zum Sammelpunkt. Dort werden wir medizinisch gescannt, unsere Personalien aufgenommen und alle Formulare geprüft, dann auf Busse verteilt und schließlich mit einem bewachten Konvoi zum Flughafen gefahren.
Zwischen den Gesprächen, machen wir Pancakes, haben ein spätes Frühstück zusammen, spielen eine Runde Karten, so wie sonst auch. Nur, dass es sich anders anfühlt. Irgendwie bedrückt, obwohl ich es jetzt noch mehr genieße.
Ich weiß, dass ich mir Sorgen machen sollte, um die Reise, die noch jederzeit abgesagt werden könnte, um die sich ständig wandelnden Informationen, die wir lesen, abrufen, verarbeiten müssen, um die Rechnung, die für diesen Reparationsflug auf mich zukommen wird. Aber mein Bauchgefühl bleibt ruhig. Seit zwei Wochen haben wir hier auf der Farm regelmäßig unsere Temperatur gemessen, uns isoliert, wann immer ich eine E-Mail vom deutschen Konsulat gelesen habe, hat sie mir Sicherheit und Vertrauen gegeben, unsere Papiere sind sauber ausgefüllt, mein Ticket ist da und auch wenn ich vielleicht gerade nicht auf einer Passagierliste stehe, fühle ich, dass ich fliegen werde, dass das nur ein kleiner Fehler, eine Formalie sein kann. Ich fühle mich gut aufgehoben, außer in mir selbst. Oder vielleicht auch zwischen uns.
***
Mittlerweile kenne ich die Regeln in diesem Haus. Wer den letzten Kaffee macht, kocht eine neue Kanne. Kaffee wird hier immer getrunken. Die Hunde dürfen nicht auf den Polstern liegen. Und wer hier oben mithilft, das Mittagessen kocht, mit den Kindern spielt, Wäsche aufhängt oder von der Leine nimmt – bekommt danach ein Glas Wein, vielleicht auch zwei in der Sonne.
Also falte ich kleine Segelboote aus Papier, immer mehr, manchmal langsam, damit die Mädchen mir zuschauen und mitmachen können, manchmal schneller, weil sie mehr Spaß daran haben sie zu bemalen und später auf dem See schwimmen zu lassen.
„Warum musst du gehen Lina?“
„Weil ich zurück nach Hause muss, nach Deutschland.“
„Aber warum?“
„Weil meine Familie und mein Hund dort auf mich warten“
Sie überlegt kurz.
„Ok. Das verstehe ich. Aber ist es auch schön da?“
„Manchmal ja…“
„Ist es da so schön wie hier?“
Ich zucke mit den Schultern, lächle das kleine Mädchen an, das mir schüchtern diese Fragen stellt, sich jetzt wieder ganz auf die blauen Wellenlinien konzentriert, die sie mit Wachsmalstiften auf das Boot malt.
„Es ist anders – schön“, sage ich, mehr zu mir als zu ihr.
Der Pick-Up arbeitet sich über die unebene Stelle der Farm, durch die vielen Regenschauer, die gerade in den Nächten fielen, ist der Boden rutschig, unsere Fahrt runter zum Bootshaus langsam, fast ein bisschen mühselig. Ich halte mich mit einer Hand am Fenstergriff fest, sehe kurz zu ihm herüber, für ein Lächeln, für einen kurzen Augenblick zwischen uns. Gesprochen haben wir heute wenig. Nachdem wir die Papiere sortiert hatten, war er in die Stadt gefahren, um Lebensmittel für die ganze Familie zu besorgen, danach hatte er sie sortiert und verräumt, später im Garten geholfen ein Trampolin zu reparieren. Jetzt waren wir das erste Mal nach fast 8 Stunden allein, eben hatte er kurz meine Hand gehalten, aber dann sofort wieder beide am Lenkrad gebraucht. In einer halben Stunde werden wir zurück zum Abendessen erwartet. Damit bleiben uns 10 Minuten, um uns umzuziehen, und dann noch fünf für eine Umarmung, eine lange, in der ich ausatmen kann, die Muskeln loslassen, die sich in zu viel unbestimmter Stille immer anspannen.
Ich ziehe mir gerade einen gemütlichen Pullover über mein kurzes Top und suche nach einem Zopfgummi um mir die Haare zusammenzubinden, als ich ihn über den Holzfußboden zu mir ins Schlafzimmer laufen höre.
„Lass uns doch lieber hier bleiben … damit wir heute noch einmal nur zu zweit sind?“
„Okay … Ich könnte uns Pasta machen?“
Er nickt, küsst mich, zieht ein frisches Handtuch neben mir aus dem Schrank und geht wortlos ins Badezimmer.
Was wir jetzt sind, was wir werden ..
Meine Bolognese braucht gut 90 Minuten, eigentlich zwei Stunden, aber wir haben Hunger und schon eine halbe Flasche Rotwein getrunken. Während ich die Pasta auf zwei Teller verteile, zündet er Kerzen und Öllampen um uns an und als ich mich setze, mich in dem kleinen Raum umschaue, der nur durch ein paar warme Lichter noch Umrisse zeigt, denke ich: es fehlt vielleicht Parmesan, aber sonst gar nichts.
Es ist egal, dass wir hier keinen Strom, keinen Empfang, nur uns und nur noch wenig Zeit haben.
Dieser Moment zählt, nicht was auch immer kommen kann oder was sein könnte. Das habe ich schon vor Jahren in Afrika gelernt, mich in den letzten zwei Wochen aber erst wieder daran erinnert: Momente zählen zu lassen, nur sie, nicht was danach kommt. Es kommt von allein. Und zeigt sich erst dann.
Nach dem Abendessen rollt er sich eine Zigarette, raucht sie im Türrahmen, während ich den Tisch abräume und uns noch einmal Wein nachschenke. Ich reiche ihm sein Glas, lehne mich an seinen Rücken und frage, vielleicht endlich: „Woran denkst du?“
***
Er denkt darüber nach, dass wir uns nicht ineinander verlieben sollten, nicht jetzt, obwohl es vielleicht zu spät ist. Vielleicht für ihn. Er denkt darüber nach, dass er sich vielleicht immer weniger und dann gar nicht mehr bei mir melden wird, sobald ich in Deutschland bin. Dass er deswegen nicht immer weniger und dann gar nicht mehr an mich denken oder mich wollen wird. Er denkt darüber nach, dass er nie eine Beziehung mit oder über sein Telefon haben wollte. Er denkt darüber nach, dass wir vielleicht die Pause machen sollten, bis ich wieder in Südafrika bin. Er denkt darüber nach, ob es richtig war mich so früh seiner Familie vorzustellen, die mich längst so gern hat. Er denkt darüber nach, ob wir dabei sind uns unglücklich zu machen. Und dann will er gar nicht darüber nachdenken, wie das ist, wenn er mich auf einmal nicht mehr sehen, nicht mehr festhalten, nicht mehr bei sich haben kann.
Und ich denke, dass er spät anfängt über all das nachzudenken. Viel später als ich.
Ich zuckte schon vor Wochen zusammen, als er mich vorm Clarke’s küsste, meine Hand hielt und mich fragte, wie lange ich eigentlich immer in Deutschland bliebe, bis ich wieder nach Südafrika käme. „Sechs oder acht Wochen?“ „Eher 6 Monate...“, hatte ich geantwortet und wir dann einfach nicht weiter darüber gesprochen.
Ich lag schon lange mit dem Gedanken wach, dass wir uns gerade einmal sechs Wochen kannten, unsere Dates noch abzählen und einzeln erinnern konnten – aber bald auf unbestimmte Zeit getrennt sein würden. Und erst gestern Nacht, als er still eingeschlafen und die Nachricht über meine Abreise erst ein paar Stunden alt war, hatte ich auf dem Deck gesessen, in die Sterne geschaut und dieses Gefühl zugelassen, dass eine Fernbeziehung nach so kurzer Zeit, mit einem Mann, der nicht gern redete, der Nähe brauchte, um sich überhaupt zu öffnen – vielleicht nur ein weiterer Anfang war, um mich unglücklich zu machen. Und das, nachdem ich gerade erst Monate gebraucht hatte, um mich selbst wieder glücklich zu machen.
"Kennst du diese Zeile in Filmen? In denen die Menschen einander sagen, dass es schwer wird, hart wird, aber es das alles wert ist? Ich denke dann immer, wie unfair das ist. Sich eine Sicherheit für alles Kommende zu versprechen, die man in einem Moment gefühlt hat, in dem alles leicht und überschaubar ist. Ich glaube du kannst dir nicht versprechen, dass du meistern wirst, was auch immer kommt. Oder zumindest ist dieses Versprechen nicht viel wert. Glauben kannst du es erst, wenn beide es wiederholen, in dem Moment, in dem eingetreten ist, was schwer, was hart, was auszehrend sein würde."
Er nickt, ich hoffe dass er versteht was ich sagen will. Ich wusste genau, dass wir nicht einfach enden würden, sobald ich diese Cabin verlassen musste, ich fühlte es, ich war mir sicher wie gern er mich hatte, zum ersten Mal seit langer Zeit aber ich war mir nicht sicher, ob wir beide wussten, begriffen, was wir hier angefangen hatten und wohin es uns tragen könnte..
..... kapitel 14/21 erscheint am 27.06.2020
Das Cabin Diary ist ein kostenloser Inhalt auf www.linamallon.de
Ich möchte den Blog auch in Zukunft genau so offen und ohne paywalls gestalten, um auch weiterhin dem Grundgedanken zu entsprechen, mit dem ich ihn 2011 gegründet habe.
Sollten euch dieser Beitrag, das Diary oder generell meine Inhalte gut gefallen, euch inspirieren, informieren oder unterhalten – habt ihr aber ab jetzt die Möglichkeit eine kleine Unterstützung für meine Arbeit dazulassen. Wie viel euch dieser Beitrag oder das Diary wert ist, bleibt dabei ganz euch überlassen.
Egal, ob ihr den Button klickt, einen Kommentar hinterlasst oder heute nur gerne gelesen habt, was ich aufgeschrieben habe: vielen lieben Dank für euren Support, von Herzen!
Lina
Ich finde eure Geschichte so wundervoll, so schön und irgendwie habe ich manchmal das Gefühl, dass wir zwar in unterschiedlichen Lebenssituationen heimisch sind, aber ähnliches lernen. Über sich selbst, über sein Umfeld, über Momente und was sie bedeuten. Und ich lerne gern von dir.
Ich fiebere jedem neuen Kapitel entgegen und kann dann immer gar nicht glauben, dass man sich beim Lesen so nah dran oder sogar fast wie dabei fühlen kann. Würdest du das Cabin Diary noch mal als Buch veröffentlichen, ich würde es sofort kaufen. Deswegen mag ich die Idee der Möglichkeit zum Spenden sehr. Ich gebe so viel Geld für Dinge aus, die mir weit weniger Freude bereiten als deine Inhalte. Danke dafür.
Liebe Grüße
Das war bisher mein absolutes Lieblingskapitel. Danke, dass du uns teilhaben lässt!
Liebe Lina,
dieses Chapter hat mir besonders gut gefallen! Man kann sich so gut in diese Situation hineinführen und ich bin gespannt wie es weitergehen wird. Von außen betrachtet habt ihr denke ich etwas besonderes aufgebaut, auch wenn die Zeit so kurz war. Sowas verbindet, selbst über mehrere tausend Kilometer.
Viele Grüße aus Wien.
🙏 💖 ✨
Ich liebe diese Diary und seine Entwicklung. Einfach so schön, dass man Gänsehaut bekommt.
<3
Ich liebe liebe liebe deinen Schreibstil, deine Geschichten, Emotionen und Situationen. So nah dran. So zum mitleben, nachdenken selber fühlen. Gedanken und Gefühle wiedererkennen und reflektieren. Träumen. Danke, dass du uns daran teilhaben lässt. Hier, im Buch und im Podcast.
Ich wollte auch nie eine Fernbeziehung, aber dann hat man sie doch, weil die Alternative keine Option mehr ist, man viel zu sehr drin steckt ohne es gemerkt zu haben. Ich hoffe sehr, dass auch du dein Happy End bekommst, aber wer nicht versucht hat schon verloren…
Ugh. Ich hab einen richtigen Kloß im Hals. Wieder einmal hast du’s geschafft einen in eure Gefühlswelt mitzunehmen. Danke für diese fast intime Nähe. Ich wünsch mir richtig, dass ihr euch -trotz der Entfernung – beide glücklich machen könnt. Bin gespannt auf das nächste Kapitel morgen! Danke Lina, du schreibst so großartig! Nach jedem Kapitel hat man Lust auf mehr mehr mehr! 🌻
Ich fühle und leide mit. Sehr schön beschrieben!
Hatte selbst eine Fernbeziehung mit einem Südafrikaner über ein paar Jahre. Nun ist viel Zeit vergangen und es schmerzt noch immer, weil es auf Dauer dann doch keine Zukunft mit uns hatte…
Ich fühle und leide mit. Sehr schön beschrieben!
Hatte selbst eine Fernbeziehung mit einem Südafrikaner über ein paar Jahre. Nun ist viel Zeit vergangen und es schmerzt noch immer, weil es auf Dauer dann doch keine gemeinsame Zukunft für uns gab…
Ich warte jetzt aufs nächste Kapitel) Hoffentlich bald